Atem ist Leben

von Chantal Fleurant

(veröffentlich in: Fachmagazin für Complementär-Medizin, 2/2001)

 

Gesundheit durch Atemintegration

Bewusstheit über den Atemfluss und spezielle Atemtechniken fördern die Einheit und Gesundheit von Geist und Körper. Besonders in Zeiten starker Belastung, Stress und emotionaler Krisen ist bewusstes Atmen ein Weg, die eigene Mitte und Ausge­glichenheit zu stärken und das innere und äußere Wachstum zu unterstützen.

In vielen alten Kulturen, Meditationsschu­len und Therapieformen ist das Atmen auf unterschiedliche Weise ein zentrales Mittel, um körperliche und geistige Lern-und Erfahrungsprozesse in Gang zu setzen oder zu unterstützen.

Die erste Handlung in unserem Leben ist das Einatmen, die letzte das Ausatmen. Dazwischen spielt sich unser ganzes Leben ab.

Der Atem ist unsere vitalste Energie­quelle:

  • Über den Atemvorgang unseres Körpers wird dieser biologisch mit Energie ver­sorgt, es werden Ablagerungen und Gifte verbrannt und ausgeschieden. Die Lunge ist nach der Haut das größte Kontaktorgan des Körpers. Je wirksamer wir atmen, desto frischer und gesünder bleiben die Zellen unseres Körpers.
  • Auf der geistigen und psychischen Ebe­ne ist der Atem Träger von Lebensener­gie (Prana). Durch das Ein und Aus der Atembewegung sind wir mit dem Rhythmus, dem Pulsieren des Lebens verbunden. In der Art und Weise, wie wir den Strom des Lebens in uns aufnehmen und wieder loslassen, spiegeln sich viele unserer Gedanken und Einstellungen zum Leben. Indem wir anders atmen, le­ben wir anders.
  • Über den Atem können wir unsere Emo­tionen beeinflussen. Oft entstehen Atemstörungen durch unterdrückte Ge­fühle, durch Unterdrückung von ur­sprünglichen Lebensprozessen in uns selbst.

Je freier wir atmen, desto freier sind wir in unseren Gefühlen und unserem Handeln.

Der physiologische Aspekt

Der physiologische Aspekt

Physiologisch dient die Atmung dem Gas­austausch, der Aufnahme von Sauerstoff und der Abgabe von Kohlendioxid. Die Körperzellen benötigen Sauerstoff zur Verbrennung von energetischen Substan­zen (Zucker, Fett) also zur Gewinnung von all der Energie, die der Körper für Bewe­gung, eine konstante Körpertemperatur und seinen Stoffwechsel braucht.

Die Sauerstoffaufnahme erfolgt in der Lunge und wird über den Blutkreislauf zu den Körperzellen transportiert. Bei jeder Einatmung dehnen sich die zwischen den Rippen befindlichen Muskeln aus. Zudem wölbt sich das Zwerchfell, unser Haupt­atemmuskel, nach unten. Dadurch strömt Luft in die Lunge, der Bauch dehnt sich aus, die inneren Organe werden massiert (dieses setzt aber eine optimale Zwerch­fellatmung voraus).

In der Regel erfolgt die Steuerung der At­mung unwillkürlich - damit dies z.B. auch im Schlaf funktioniert - vom sogenannten Atemzentrum aus, das sich im Hirnstamm befindet. Das Atemzentrum steht in enger Beziehung zum vegetativen (unwillkür­lichen) Nervensystem, bestehend aus Sym­pathicus und Parasympathicus. Verein­facht ist der Sympathicus für die Einat­mung, der Parasympathicus für die Ausat­mung zuständig. So ergibt sich die Mög­lichkeit, über die Atmung auf das vegeta­tive Nervenzentrum therapeutisch regu­lierend einzuwirken.

Atem als Brücke

Der Atem - Brücke zwischen Körper und Geist

Atmung ist mehr als eine bloße Körper­funktion. Durch den wechselseitigen Rhythmus des Ein- und Ausatmens sind wir mit dem Pulsieren alles Lebendigen verbunden. Die Polarität, die wir außen z.B. mit dem Wechsel von Tag und Nacht er­fahren, erleben wir durch das Ein- und Ausatmen innen, tief in uns, und zwar ständig. Der Atem ist unser ständiger Be­gleiter und wird uns ein wahrer Freund, wenn wir lernen, ihn willkürlich, bewusst einzusetzen.

Die Einatmung ist wie eine Spannung, die wir zum Handeln brauchen, die
Ausatmung eine Ent-Spannung, die wir nach dem Handeln benötigen.

Der Austausch von Sauerstoff und Koh­lendioxid auf der körperlichen Ebene zeigt deutlich, was mit der Aufnahme und Ab­gabe, mit dem (Hin-)nehmen und (Her-)geben, mit dem Annehmen und Loslassen auf der geistig-seelischen Ebene oder mental-emotionalen Ebene eigentlich ge­schieht.

Etymologisch gesehen verwenden alle alten Sprachen für Atem dasselbe Wort wie für Seele oder Geist:

Im Lateinischen heißt Spirare atmen und Spiritus Geist, ein Wortstamm, dem wir in dem Wort Inspiration wiederfinden. Dieses • bedeutet wörtlich Einhauchen, was mit Einatmen und Hineinnehmen untrennbar verbunden ist. In der indischen Lehre ist der Atem Träger der eigentlichen Lebens­kraft, die Prana genannt wird. In der bibli­schen Schöpfungsgeschichte wird uns er­zählt, dass Gott dem geformten Erdenkloß seinen göttlichen Odem einhauchte und so den Menschen zu einem lebendigen Seelenwesen machte.

Durch dieses Bild sind wir dem Geheim­nis des Atems schon sehr nahe:

Der Atem gehört nicht zu uns, noch gehört er uns. Der Atem ist nicht in uns, sondern wir sind im Atem. Über den Atem sind wir ständig verbunden mit etwas, was jenseits des Geschöpften, jenseits der Form (des materiellen Körpers) ist. Wir können es er­fahren, indem wir uns ihm öffnen und ihn durch uns hindurchfluten lassen.

Der Atem ist die Nabelschnur, durch  die dieses Leben durch uns hin fließt
und er sorgt dafür, dass wir in dieser  Verbindung bleiben.

 

Der Atem bewahrt davor, dass der Mensch sich ganz abschließt, sich ganz verschließt. Machen wir uns bewusst, dass wir die gleiche Luft einatmen, die auch unser „Feind" ein- und ausatmet, es ist die gleiche Luft, die Tier und Pflanze atmen.

Der Atem verbindet uns ständig mit allem und jedem, ob wir es wollen oder nicht.

Atem hat etwas mit „Kontakt" und „Bezie­hung" zu tun, Beziehung zu uns selbst, zu den anderen, zu der Natur, zu höheren Di­mensionen. Dann wird verständlich, wenn jemand sagt, dass ein anderer Mensch ihm „die Luft wegnimmt': Der Widerwille, über den Atem mit jemand in Kontakt zu kom­men, zeigt sich z.B. in einem Spasmus beim Ausatmen, wie es beim Asthma der Fall ist.

Atemmuster

Entwicklung der Atemmuster

Wenn wir ein Baby beobachten, sehen wir, wie entspannt und tief es atmet. Beim Ein­atmen wölbt sich sein Bauch, beim Ausat­men wird er wieder flach. Seine Lunge füllt sich vollständig mit Luft. Sein Atem fließt frei und überall hin. Wenn es schreit, schreit es von Kopf bis Fuß und wenn es lacht, lacht jede Stelle seines Körpers mit. Es zeigt alle seine Gefühle und hält keinen Impuls zurück.

Es ist der Einheit sehr nahe, die wir
Erwachsenen anstreben, nach der wir
uns sehnen.

Viele Menschen verlernen das natürliche Atmen auf Grund der Lebensbedingungen und begrenzenden Einstellungen (Glau­benssätzen), mit denen sie aufwachsen. (siehe Grafik: Die Konstellation der Unter­drückung).

Dazu ein Beispiel:

Ein kleines Kind weint, doch seine Mutter fordert es auf, mit dem Weinen aufzuhö­ren. Wie kann das Kind der Aufforderung seiner Mutter gerecht werden? Dadurch, dass es seinen Atem anhält (1) und gleich­zeitig eine Stelle in seinem Körper an­spannt (2). Denn nur so nimmt es sein Ge­fühl nicht mehr wahr (3) und entzieht sei­ne Aufmerksamkeit dem, was es zum Wei­nen gebracht hat (3). Das Kind nimmt wahr, dass es aus irgendeinem Grund nicht ange­messen ist, in dieser Situation zu weinen (4). Es ist schlecht, nicht in Ordnung, das zu fühlen und sich so zu zeigen (4). Wenn wir den Atem anhalten oder sehr flach atmen, nehmen wir unsere Gefühle nicht mehr so deutlich wahr. Im Laufe der Zeit wird es all­mählich zu unserer festen Gewohnheit, nicht zu weinen oder nicht wütend zu wer­den. So lernen wir schon als Kinder, die Kontrolle zu behalten (5), indem wir unse­ren Atem einschränken (1).

Der Atem hat eine große Bedeutung für unseren Umgang mit unseren Gedanken und Gefühlen und insbesondere unserem Körper:

Jedes Gefühl ruft eine Empfindung in unserem Körper hervor und ist mit
dieser bestimmten Körperstelle verbunden.

Normalerweise achten wir nur auf unsere Gedanken und Gefühle, ohne deren Wir­kung auf unseren Körper wahrzunehmen. Unterdrückung bzw. Abwertung von uner­wünschten Gefühlen (wie Wut, Lust oder Traurigkeit) bedeutet das Eingreifen in die ursprüngliche Einheit von Körper, Atem und Geist. So wird im Körper eine erhöhte Spannung aufgebaut, Verhärtungen entstehen, die Atmung kommt ins Stocken. Parallel zur Entwicklung einer psychischen Struktur in jedem von uns entwickelt sich entsprechend unserer Atem-Muster eine individuelle Körperstruktur.

Zur Verdeutlichung:

Mit einer Körperhaltung mit vorgezogenen Schultern und rundem Rücken ist wenig Platz im Brustkorb für die Einatmung. Eine schlechte Voraussetzung, um Gefühle von Stärke, Sicherheit oder Wut ausleben zu können.

Der Körper lügt nicht, und die verdrängten Teile unseres Selbst machen sich irgend­wann einfach bemerkbar durch schmer­zende oder erkrankende Körperstellen, durch Gefühlsausbrüche, die zum Zu­sammenbruch führen oder durch Lebens­krisen.

Es ist der Augenblick, wo wir zu unserer Wachstumschance greifen können. Wir können uns freiwillig auf sanfte Weise un­sere versteckten Seiten und Schwierigkei­ten im Leben aktiv anschauen oder abwar­ten, bis wir passiv dazu gezwungen werden. Jeder hat die freie Wahl.

Verbundenes Atmen

Integratives verbundenes Atmen

Abwertung, Unterdrückung und Wider­stand bewirken beim Energie- und Atem­strom im Körper Störungen und Hinder­nisse, die sich in verschiedenen Formen von Atemhemmungen niederschlagen. Sie be­einträchtigen unsere Wahrnehmung der aktuellen Situation und begrenzen unsere Möglichkeiten, damit angemessen umzu­gehen. (Siehe Grafik: Die fünf Elemente der Integration  ).

Durch die bewusste Verbindung der Einat­mung mit der Ausatmung - in einem ent­spannten Rhythmus - werden solche Atemhemmungen wahrnehmbar. Dieses verbundene kreisförmige Atmen (1) lenkt die eigene Aufmerksamkeit vollständig auf die Gegenwart in unserem Körper und hilft uns, mit dem Bewusstsein ganz in der Gegenwart und im Körper anwesend zu sein. Damit entsteht ein Kontakt mit unse­rem körperlichen Gefühl und den damit verbundenen Gedanken und Emotionen

Der verbundene Atem (1) bringt das hervor, was gerade ist und macht es uns bewusst. Jede Einzelheit im Körper wahr­zunehmen (3) und dabei vollkommen ent­spannt zu sein (2), bedeutet ja zu sagen zu dem, was ist und es urteilslos anzunehmen

Dank der aufmerksamen Wahrneh­mung jeder Einzelheit kann das wieder in Liebe angenommen werden, was früher abgelehnt und abgewertet wurde. Dieses Annehmen ist ein aktiver innerer Vorgang, indem wir aufhören, etwas abzuwerten (4). Dann entsteht/passiert Integration, ein zentraler Begriff der ganzheitlich 'integra­tiven Atemtherapie. Durch die bewusste Aufmerksamkeit auf die Atmung identifi­zieren wir uns nicht mehr mit den vorbei­kommenden Gedanken und Gefühlen.

Dann beobachten wir uns selbst aus der Perspektive eines bewussten Ichs.

So werden wir innerlich immer sicherer, um vergangene schmerzliche Erfahrungen zu integrieren. Tiefe Gefühle wie Frieden und Glück werden wie­der spürbar, wenn wir unsere einschränkenden Gedanken aufgeben. Sowohl geistig als auch körperlich lösen sich die Blockaden auf, und wir können uns dem Prozess anvertrauen (5). Die Kraft (Energie), die mit den Urteilen und Emotionen blockiert war, wird wieder frei­gesetzt (5). Dadurch entstehen für die jetzige Lebenssituation angemessene Wahlmöglichkei­ten.

Integration bedeutet: bewusst wahrzunehmen, dass ich größer als mein Gefühl bin
und es so als einen Teil von mir bei mir tragen kann.

Die 2 Aspekte der Atmung

Einsatzmöglichkeiten der Atemtherapie

Der Einsatz des bewussten At­mens in der Psychotherapie hat zwei scheinbar gegensätzliche Funktionen.

Aktivierendes aufdeckendes Atmen (den Sympathikus ak­tivierend):

Sollen tiefer liegende Gefühle in Bewegung gesetzt werden, so ist dies vordringlich durch verstärktes und beschleunigtes Atmen zu erreichen (Betonung auf dem Einatmen). Diese Form dient insbesondere dann, wenn das Entwicklungsproblem in der Gefühlshemmung liegt, um den Zugang zu wirklichen Ge­fühlen zu öffnen. Bei manchen Formen der Depression, die durch Antriebsmangel gekenn­zeichnet sind, kann verstärkte Atmung den Energiepegel und damit das subjektive Wohlbe­finden heben.

Entspannendes-beruhigen­des Atmen (den Parasympa­thicus aktivierend):

Liegen traumatische Wunden und Verletzungen offen, so hilft das Atmen, zur Mitte, zur inneren Ruhe zu finden und zu entspannen (Betonung auf dem Ausatmen). Wenn z.B. Un­ruhe, Angst und Stress vorlie­gen, hat sich die entspannende Form der Atemarbeit, die hilft, zur Realität im Körper und zu feineren Körperempfindungen zu finden, bewährt.

Beide Schwerpunkte der At­mung können in einer Atemsit­zung kombiniert werden. Letztlich balanciert sich der Atem und bildet in dieser Form häufig den Ausklang einer Atemsitzung. Bei verstärkter Einatmung (mehr Kraft, Selbst­vertrauen) kommt auch mehr Ausatmung, dadurch mehr Entspannung zur Kraft. Bei Be­tonung auf der Ausatmung kommt auch mehr Einatmung, dadurch zugleich Kraft zur Ent­spannung.

Ganzheitlich integrative Atemtherapie

Ganzheitliche integrative Atemtherapie

 (T. Platteel­Deur / H. Mensink, Holland) ba­siert auf spiritueller Psycholo­gie und den Traditionen der humanistischen und transper­sonalen Psychologie. Der Schwerpunkt liegt auf dem in­tegrativen verbundenen At­men. Kombiniert mit Metho­den wie Voice Dialogue, Basis­techniken des NLP, Massagen, Beziehungs- und Energiearbeit ist sie eine Therapieform, die Bewusstseinsprozesse beglei­tet, die zur Integration im All­tag führen.

Die körperlichen Auswirkun­gen des bewussten Atmens:


  • Anregung des Stoffwechsels
  • Erhöhung des Sauerstoffpe­gels
  • Stärkung der Beckenboden-, Bauch- und Brustmuskulatur
  • Regulierung der Verdauung
  • Aktivierung der Körperdrü­sen
  • Abbau von Abfallstoffen
  • Tiefe Entspannung
  • Stärkung der körpereigenen Abwehrkräfte
  • Unterstützung des Heilungs­prozesses

Die geistig-seelischen Aus­wirkungen des verbundenen Atmens:


  • Befreiung von alten Glau­bensmustern
  • Gefühle von Ekstase und Glücklich sein
  • Atembefreiung (Atem geht von selbst)
  • Geistige Entspannung
  • Gefühle von Geborgenheit und Frieden
  • Bewusstsein seines wahren Wesens
  • Klarheit und gestärkter Wil­le
  • Leichtigkeit im Denken u. im Leben
  • mehr Lebensfreude
  • Vertrauen in den Fluss des Lebens
  • Eingebundenheit in eine hö­here Ordnung
  • Liebe fließen lassen

Wir sollten bewusstes Atmen üben, damit wir lernen, in schwierigen Momenten mit heftigen Emotionen umzugehen.

Thich Nhat Hanh